Am 6. Juni 2024 entschied der EuGH in der Rechtssache C-547/22, dass ein rechtswidrig von einem Vergabeverfahren ausgeschlossener Bieter Schadensersatz für den Verlust einer entgangenen Zuschlagschance verlangen kann. Eine anderslautende nationale Regelung stünde somit geltendem EU-Recht, insbesondere der Richtlinie 89/665/EWG, entgegen. Die Zuschlagsmöglichkeit sei eine Vermögensposition, für deren Verlust der rechtswidrig ausgeschlossene Bieter einen Ausgleich verlangen können muss.

Grundlage des Vorabentscheidungsersuchens war ein Verfahren vor einem slowakischen Zivilgericht, in welchem das Bauunternehmen INGSTEEL Schadensersatz von der slowakischen Behörde für öffentliches Auftragswesen forderte. Das Unternehmen war als Teil einer Bietergemeinschaft vom Vergabeverfahren über die Modernisierung und den Bau von Fußballstadien in der Slowakei wegen angeblich fehlender Eignung ausgeschlossen worden. Dieser Ausschluss war durch die slowakischen Gerichte für rechtswidrig erklärt worden. Das Unternehmen begehrte nun den Ersatz des ihm durch den rechtswidrigen Ausschluss entstandenen Schadens.

Das Gericht legte dem EuGH daraufhin Fragen zur Vorabentscheidung vor, u.a. über die Reichweite der Schadensersatzregelungen aus der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG und über die Anwendung der nationalen Bestimmungen über die Zuerkennung von Schadensersatz in Form des entgangenen Gewinns.

Der EuGH brachte in seiner Entscheidung ein weites Verständnis bei der Zuerkennung von Schadensersatz wegen eines rechtswidrigen Ausschlusses von einem Vergabeverfahren zum Ausdruck. Insbesondere erkannte er die Ersatzfähigkeit des entgangenen Gewinns an. Dieser Schaden könne sowohl bereits in dem Aufwand liegen, der durch die Erarbeitung der Teilnahme- und Angebotsunterlagen entsteht, als auch in der Nicht-Erbringung eines Auftrages und somit darin, dass ein bestimmter Umsatz nicht erwirtschaftet werden kann.

Letztlich verweist der EuGH auf die Verantwortung jedes Mitgliedstaates, in seiner Rechtsordnung die Kriterien zu bestimmen, auf deren Grundlage der Schaden zu bemessen ist. Die grundsätzliche Anerkennung des Verlustes der Zuschlagschance als ersatzfähiger Schaden ist dabei ebenso wie die europarechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität stets zu beachten.

Das Recht auf chancengleiche Verfahrensteilhabe ist folglich eine durch das Unionsrecht geschützte Rechtsposition. Bei Nichtbeachtung kann bereits daraus eine Vermögensminderung entstehen: nicht wegen des Verlustes eines zu erwartenden Gewinnes, sondern wegen des Verlustes einer Zuschlagschance. Relevanz für die deutsche Rechtspraxis ergibt sich daraus, dass die Schadensposition „Verlust einer Chance“ nicht allein in der bereits etablierten Schadensposition „entgangener Gewinn“ (vgl. § 252 BGB) aufgehen kann und somit künftig zusätzlich bewertet werden muss.

Herausfordernd werden in diesem Zuge die Schadensquantifizierung und die Auswirkungen auf die Beweislast sein. Diese liegt bei einem Schaden im Rahmen des entgangenen Gewinns bei dem klagenden Bieter. Beim Verlust einer Zuschlagschance, welche mit dem vergaberechtswidrigen Ausschluss des Bieters und somit einer vorvertraglichen Pflichtverletzung, einhergeht, wird diese umgekehrt und liegt bei dem in Anspruch genommenen Auftraggeber.

Auftraggebern wird folglich eine detaillierte Dokumentation der Entscheidungen sowie des genutzten Beurteilungsspielraums nahegelegt, um im Falle eines Schadensersatzprozesses den Beweis liefern zu können, dass der Bieter bereits zum Zeitpunkt des Ausschlusses keine Chance auf den Zuschlag hatte.

Für Fragen steht Ihnen auch Ihre Ansprechpartnerin Frau Prof. Dr. Dageförde (zum Profil von Frau Prof. Dr. Dageförde) gerne zur Verfügung.